Wie hat Blasmusik in der Schweiz vor 200 Jahren geklungen? Wie ist damals eine Probe abgelaufen? Wer hat in einem Musikverein mitgewirkt? Solche Fragen sollen in einem kürzlich gestarteten Forschungsprojekt der Hochschule der Künste Bern (HKB) beantwortet werden.
Im Zentrum des Projekts stehen rund fünfzig Notenbücher mit über 400 Stücken und zwanzig Instrumente aus Rorschach und Hundwil, welche durch glückliche Umstände bis heute erhalten geblieben sind.
Besonders alte Notenbücher
Das ausserordentliche dieser Sammlung von Noten und Instrumenten ist ihr Alter. In einem der ältesten Notenbücher steht: «Anno 1811 ist die jezige Musick=Gesellschaft zusammen getretten». Aus dieser frühen Zeit gibt es kaum Informationen zum neu entstehenden zivilen Blasmusikwesen in der Schweiz. Die Sammlung umfasst aus der Zeit bis 1854 sogar drei Generationen von Notenbüchern und dazu noch die Instrumente, auf denen diese Noten gespielt wurden. Das Material bildet die raschen musikalischen, aber auch gesellschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit ab.
Bevor zivile Blasmusikgruppen bestanden, spielten Blasmusiker in der Militärmusik. Einige von ihnen gründeten nach ihrem Dienst zivile Musikvereine. Auch in den Hundwiler Quellen sind noch Spuren der Militärmusik zu finden. In einem Althornbuch sind zum Beispiel Tagwacht, Zapfenstreich und weitere Ordonnanzstücke notiert.
Eine bewegte Zeit
Auf Ebene der Instrumente fanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls wichtige Entwicklungen statt. Zum Beispiel wurden in diesen Jahren die Ventile entwickelt, mit denen chromatisches Spielen auf Blechblasinstrumenten möglich wurde. Die erste Ventiltrompete kam in Rorschach wohl auch in den 1830er Jahren zur Musik hinzu. In Hundwil wurde Ende der 1840er Jahre noch ein neuer Musikverein ohne Ventilinstrumente gegründet, nur wenige Jahre später wurde die Besetzung aber um etliche der modernen Instrumente erweitert.
Eine besonders charakteristische Neuigkeit dieser Zeit war die Erweiterung der Perkussion. Ursprünglich waren in Europa Tambouren mit Pfeifern oder Pauken mit Trompetern bekannt. Inspiriert von der türkischen Janitscharenmusik wurden Triangel, Becken («Tschinellen»), grosse Trommel und der Schellenbaum in die Blasmusikbesetzungen integriert. Der Triangel, die Becken und der Schellenbaum aus Hundwil sind bis heute erhalten. Sie können im Museum Herisau bewundert werden.
Eine rätselhafte Verbindung
Ein Rätsel, das unsere Quelle stellt, ist der «Umzug» der Notenbücher und Instrumente von Rorschach nach Hundwil: Die erste Generation Notenbücher und Instrumente stammt von einer Blasmusik aus Rorschach. Wann, warum und wie dieses Material nach Hundwil gekommen ist, gilt es noch herauszufinden. Denkbar ist, dass der Leiter von Rorschach nach Hundwil gezogen ist, dort die bestehende Blasmusik übernommen hat und das Repertoire gleich mitbrachte.
Was wir bisher feststellen konnten: Ein Teil der 276 Rorschacher Stücke tauchen auch in den Hundwiler Büchern wieder auf. Das Repertoire bestand hauptsächlich aus gefälligen und oft auch tanzbaren Stücken wie Marsch, Walzer, Hopser oder Allemande. Die Kompositionen und Arrangements stammen aus der Feder lokaler Komponisten, aber auch aus Deutschland und Österreich.
Auftritte an Landsgemeinden und Schützenfesten
Aufführungen fanden nach heutigem Stand der Erkenntnisse sowohl zu repräsentativen Zwecken wie auch zur Unterhaltung an Volksfesten oder in Gasthäusern statt. Erstere konnten behördliche Anlässe wie eine Landsgemeinde oder militärischer Natur sein. Von zweiterem gibt es zum Beispiel Überlieferungen von der Teilnahme von Blasmusikensembles am Schützenfest in St. Gallen im Jahr 1838:
«Aber das volle rege Leben wogt im Kaffeehaus, Herren und Damen, Schüzen und Arbeiterinnen, Geistliche und Bauren, Greise und Kinder, Katholiken und Protestanten, geniessen zugleich in vollen Zügen die Kühle des Abends. Ales wird still, sobald die treffliche Blechmusik beginnt, und rauschendes Händeklatschen lohnt ihren Effekt. […] Diese war, unter Direktion Polischansky’s von Bregenz von der Gesellschaft auf eigene Kosten organisirt, 8 Tage eingeübt und geschmakvoll uniformirt worden. Sie bestand aus 20–24 Mann, unter denen einige mitgebrachte Virtuosen waren. Auch die Rorschachermusik liess sich mit Beifall hören.»
Möglicherweise können wir den Auftritt der Rorschacher sogar rekonstruieren. Im Buch der 2. Klarinette von Werner Baumgartner sind die folgenden Stücke aufgelistet und mit dem Jahr 1838 vermerkt:
- Reisemarsch aus der Oper «Fra Diavolo» von Daniel Auber
- Pas redouble
- Feldmarsch aus der Oper «Fra Diavolo» von Daniel Auber
- Parademarsch
- Marsch aus der Oper «Zampa» von Ferdinand Hérold
Die drei Märsche aus französischen komischen Opern waren moderne Musik: «Fra Diavolo» von Auber war 1830 uraufgeführt worden, Hérolds «Zampa» 1831. Diese Listen, die sich in den Einbänden vieler der Bücher finden, geben uns Auskunft über zusammen gespielte oder geübte Stücke und tragen dazu bei, ein lebendiges Bild dieser beiden Musikgesellschaften im frühen 19. Jahrhundert zu zeichnen.
Bis zur Wiederaufführung dieser alten Musik
Die Resultate des Forschungsprojekts sollen uns neue Erkenntnisse zur Herkunft des heutigen Blasmusikwesens in der Schweiz zeigen. Ausserdem soll die Musik auf historischen Instrumenten möglichst originalgetreu wiederaufgeführt werden. Und vielleicht werden die schönsten dieser Kompositionen auch ihren Weg zurück ins Repertoire der heutigen Blasmusikvereine finden?
Aufruf
Wissen Sie von Blasmusiknoten, Protokollbüchern oder ähnlichem Material von Vereinen aus der Ostschweiz aus dem 19. Jahrhundert? Haben Sie in Ihrem Musikverein ähnlich alte Dokumente und möchten diese ans Tageslicht bringen? Dann freuen wir uns, von Ihnen zu hören.
blasmusikforschung@hkb.bfh.ch
Mehr zum Forschungsprojekt finden Sie auf der Webseite