In diesem Jahr darf der Mitte-Politiker und Bündner Martin Candinas den Nationalrat präsidieren. «Unisono» durfte ihn im Bundeshaus besuchen und hat dabei einen ehemaligen Musikanten kennengelernt, der sich nicht nur für unsere vier Landessprachen, sondern auch für das Vereinsleben stark macht.
Martin Candinas, stellen Sie sich unseren Leserinnen und Lesern kurz vor.
Im kleinen Bergdorf Rabius aufgewachsen, ist meine Muttersprache Rätoromanisch. Heute bin ich verheiratet und habe drei Kinder. Ich lebe mit meiner Familie in Chur, wo unsere Kinder in die deutsch-rätoromanische Schule gehen.
Sie sind nicht nur Politiker, sondern auch ehemaliger Musikant. Erzählen Sie.
Ich habe keine grossartige musikalische Karriere hinter mir. Unsere Dorfmusik Rabius musizierte damals auf sehr hohem Niveau. Ich begann mit der Trompete und spielte in der Musikgesellschaft später auf dem Cornet. Gleichzeitig musizierte ich auch in der Kadettenmusik der Bündner Kantonsschule Chur. Ich schaffte es allerdings nie über die dritte Stimme hinaus. Dies war das Zeichen für mich, von einer musikalischen Karriere abzusehen. Ich bin aber überzeugt, dass es für die Musikvereine wichtig ist, nicht nur hervorragende Instrumentalisten zu haben, sondern auch solche, die gesellschaftlich einen wertvollen Beitrag leisten. Das ist der Grund, weshalb ich diese Geschichte gerne erzähle.
Wie sind Sie zur Politik gekommen?
Aktualitäten interessierten mich. Bereits in der Sekundarstufe las ich oft Zeitungen und fand dies spannender als die Schule per se. Nach dem Gymnasium hatte ich genug und wollte etwas bewegen. Ich begann zu arbeiten, bildete mich zum Sozialversicherungsfachmann weiter und machte nebenbei Politik.
Sie gründeten die «Junge CVP Surselva». Warum?
Meine Kollegen und ich stellten uns die Frage, wie wir das Leben in der Bergregion Surselva verbessern können; zum Beispiel um nachts vom Ausgang nach Hause zu kommen. Also lancierten wir eine erfolgreiche Petition für einen Nachtbus, den es seither gibt. So begannen wir mit Politisieren, und dabei hat es mir den Ärmel reingenommen.
Wie ging es weiter?
Im Mai 2006 wurde ich Grossrat und 2011 kam ich mit 31 Jahren in den Nationalrat. Ich bin mir vollends bewusst, dass es ein Leben nach der Politik gibt. Aber zuerst geniesse ich jetzt den Moment und den Höhepunkt meiner Politkarriere als Nationalratspräsident.
Obwohl sie nicht mehr aktiv sind, liegt Ihnen die Blasmusik immer noch am Herzen.
Ich fühle mich sehr mit der Blasmusik verbunden, aber ich bin einfach nicht musikalisch. Ersteres hat die Musikgesellschaft Surrein-Rabius an meiner Wahlfeier in Rabius betont. Wann immer möglich besuche ich ihre Konzerte. Beim offiziellen Fest in Disentis haben sich die fünf Musikvereine Sedrun, Disentis, Sumvitg/Cumpadials, Surrein-Rabius und Trun zusammengetan. Ich kann noch heute nur schwärmen, wie sensationell das war, als sie zusammen den Umzug vom Bahnhof zur Klosterkirche anführten.
Vor Ihrer Wahl waren Sie überzeugter Mitte-Politiker. Haben sich Ihre Aufgaben als Nationalratspräsident verändert?
Als Präsident hält man sich politisch zurück. Nun bin ich in erster Linie zuständig für die Ratsleitung und das Funktionieren des Parlaments, insbesondere des Nationalrats, sowie für repräsentative Aufgaben. Natürlich fällt mir dies nach elf Jahren intensivem Politisieren nicht so leicht. Aber im Wissen, dass ich mich bei einer allfälligen Wiederwahl, auf die ich fest hoffe, ab dem 4. Dezember 2023 wieder für «die Mitte» engagieren darf, ist es eine schöne Pause [lacht].
Sehen Sie Parallelen zwischen der (Blas-)Musik und der Politik?
Es gibt sehr viele Parallelen. Um es musikalisch auszudrücken: In der Partei wie auch im Rat spielt jede und jeder sein Instrument und gibt unterschiedliche Töne von sich. Die einen sind lauter und die anderen leiser. Nicht immer sind die Lauteren auch die Besseren. Und sicher ist es nicht so eine Einheit wie in einem Musikverein. Trotzdem muss man darauf achten, dass die Dissonanzen nicht übermächtig werden, und daher ab und zu die Lautstärke korrigieren. Wie der Dirigent sorge ich dafür, dass keine Stimmen bevorzugt und möglichst alle Instrumente gehört werden.
Was lehrt uns das Vereinsleben Ihrer Ansicht nach?
Das Vereinsleben lehrt uns, dass man in einer Gemeinschaft aufeinander Rücksicht nehmen muss. Man diskutiert, entscheidet und geht den Weg gemeinsam. Einmal gewinnt und einmal verliert man, das ist das Leben. Auch die Jungen werden automatisch mit diesem Umgang konfrontiert. Vereine leisten somit auch einen wichtigen Beitrag für die Demokratie.
Sie sprechen alle vier Landessprachen. Warum setzen Sie sich besonders für die rätoromanische Sprache ein?
Es fasziniert mich und macht die Schweiz einzigartig, dass wir in unserem Land über eine grosse Vielfalt verfügen und doch eine Einheit sind. Dies müssen wir pflegen und Sorge dazu tragen. Mir geht es nicht darum, im Bundeshaus den Romanisch-Apostel zu spielen, aber es ist meine Identität und es ist eine lebendige Sprache. Deshalb will ich, dass die romanische Sprache gleichberechtigt behandelt wird. In diesem Sinn werde ich das Jahr gestalten, und so lautet auch mein Motto «gemeinsam, ensemble, insieme, ensemen». Wir sollten uns auf unsere Gemeinsamkeiten besinnen und nicht auf die Differenzen. Gräben, so auch der Rösti-, der Polenta- oder der Capunsgraben, sind dazu da, zugeschüttet zu werden.
Zurück zu unseren Musikvereinen. Wie nehmen Sie diese heute wahr?
Sie stehen vor grossen Herausforderungen, das macht mir Sorgen. Viele Leute wollen sich nicht mehr in traditionellen Vereinen binden, obwohl diese für das Dorfleben zentral sind. Einige in unserer Gesellschaft sind passiv geworden, und die Pandemie hat dies noch verstärkt. Nun müssen wir versuchen, ein Umdenken einzuleiten. In den Verein zu gehen heisst für mich nicht nur, gemeinsam zu musizieren, sondern auch, danach bei einem Glas zusammenzusitzen und sich auszutauschen.
Was möchten Sie allen Musikantinnen und Musikanten der Schweizer Blasmusikszene auf den Weg geben?
Pflegt das musikalische Kulturgut, das wir in der Schweiz haben. Pflegt eure Vereine und pflegt vor allem auch die Kameradschaft und die Geselligkeit. Echter Patriotismus macht für mich ein Engagement für die Allgemeinheit, die Kultur und für die Schweiz aus.