«Krieg der Lautheit» heisst ein Aufsatz von Olivier Spinnler,
Musikliebhaber, Psychiater und Psychotherapeut. Was ist damit
gemeint? Wie beeinflusst laute Musik unseren Geist – und
wie die Stille? Das Interview mit Olivier Spinnler ist in der Schweizer Musikzeitung 6/2023 in französischer Sprache erschienen. «Unisono» darf die deutsche Zusammenfassung mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen.
Seit einigen Jahren kursiert der Begriff «Loudness War» oder «Lautheitskrieg» unter Toningenieuren und Musikliebhabern. Er bezeichnet die Praxis von Labels und Radiostationen, Tonaufnahmen immer stärker zu komprimieren und zugleich den Lautheitspegel zu erhöhen.
Rückkehr zu mehr Dynamik und Emotionen
Dadurch wird das Stück als lauter empfunden, es wird stärker beachtet und im Endeffekt auch besser verkauft. Es ist präsenter, wenn man es in einer lärmigen Umgebung hört, im Auto oder im Restaurant. Eine stärkere Komprimierung bedeutet aber auch weniger Dynamik, weniger Nuancen: Der Klang ist flach.
Beim Hören ermüdet man schneller; die Musik transportiert weniger Emotionen. Darum kämpfen viele Musikerinnen und Musikhörer für eine Rückkehr zu mehr Dynamik in den Aufnahmen. Olivier Spinnler ist einer von ihnen. Er erörtert die Problematik in seinem Blog (französisch).
«Ich bin Arzt; meine Mission ist die Psychotherapie, aber meine Passion ist
Olivier Spinnler
die Musik. Ich habe auf fortgeschrittenem Amateurniveau Querflöte gespielt, bin jedoch vor allem Musikliebhaber. Musik berührt unsere Seele und bestimmt unsere Befindlichkeit. Manchmal kommen mir die Tränen, wenn ich die Berliner Philharmoniker höre: all diese Menschen, die da zusammenwirken, um eine solche Erfahrung zu ermöglichen: Schwingungen der Luft, die Gefühle wecken, vielleicht sogar mystische Erfahrungen. Das sind Sternstunden der Menschheit.»
Immer lauter, immer mehr
Die Audiophilie ist Olivier Spinnlers zweite Leidenschaft. Sein Blog ist ein
Plädoyer, Musik in guter Qualität zu hören. Das müsse kein Vermögen kosten, sagt er. Bis in den Siebzigerjahren habe man auf Einrichtungsfotos
immer eine Stereoanlage gesehen. Heute hörten alle Musik über miese
Kopfhörer. «Ich habe Vorträge zur ‹Kunst des Hörens› gehalten, ich wollte
aufzeigen, dass man es lernen kann, wie man lernen kann, ein Gemälde zu
schätzen. ‹Immer lauter› ist eine Gier nach Reizen, nach Stimulation. Es spiegelt unsere Kultur des ‹immer mehr›.
Wenn einem der Unterschied zwischen einer Oboe und einer Klarinette nichts sagt, braucht man Lautstärke, um die fehlende Anregung auszugleichen. Das ist ähnlich wie bei einer Droge. Durch den Gewöhnungseffekt braucht man eine zunehmend heftigere Stimulation. Die laute Musik lässt die Sensibilität abstumpfen und das abgestumpfte oder gar betäubte Gehirn braucht immer mehr, um dasselbe zu fühlen.
Wenn die Stille Angst macht …
Menschen, die an eine laute Umgebung gewohnt sind, empfinden das nicht mehr als Lärm, aber der Organismus ist gleichwohl gestresst. In der Lausanner Metro habe ich rund 70 Dezibel gemessen. Und bei Art on Ice waren es 104 bis 108 Dezibel. Zum Glück hatte ich meine Ohrstöpsel dabei und es wurden auch welche verteilt. Aber ist das nicht Irrsinn? Wir werden von der Lautstärke überwältigt.
Da geht es auch um die öffentliche Gesundheit. Audiogramme bei Rekruten zeigen, dass sie zum Teil Ohren haben wie Greise. Es ist unbestritten, dass dabei die laute Musik eine Rolle spielt. Bei der Kultur des ‹immer lauter› geht es auch um Dominanz, um Testosteron. Und wenn man dann so daran gewöhnt ist, macht die Stille plötzlich Angst. Ich habe etliche Patienten, die die Stille nicht ertragen, nicht nur in Gesprächen.
… und zum Luxus wird
Wir lernen eher, uns auszudrücken, als zuzuhören. Ich möchte jedoch die
Kunst des Zuhörens entwickeln, des Musikhörens, aber auch, dass man
anderen Menschen wirklich zuhört, seinen Liebsten, Freunden, Kollegen.
Darum spiele ich meinen Patienten manchmal Musik vor. Kürzlich habe ich
einem ehemaligen Boxer Bruckners Dritte in der Aufnahme von Knappertsbusch abgespielt und er hat plötzlich gerufen: Oh, es hat beeindruckende Pausen! Daran erkennen wir, wie differenziert wir im Grunde hören könnten. Aber die Stille ist ein Luxus geworden.»