In Martigny (VS) entstand durch die Zusammenarbeit zwischen der örtlichen Musikschule und der Primarschule ein Klassenmusizierprojekt. Durch individuelles Lernen und das Lernen in der Gruppe sollen die Kinder zahlreiche Fähigkeiten entwickeln – natürlich musikalische, aber nicht nur. Das Ziel ist, den Musikvereinen der Region so zu Nachwuchs zu verhelfen.
Seit den 1970er-Jahren sind weltweit verschiedene «alternative Musiklehrmethoden» entstanden: «El Systema» in Venezuela, «Demos» in Frankreich sowie verschiedene Praktiken in der Schweiz. Martigny ist eine multikulturelle Stadt unweit der italienischen und der französischen Grenze, in der mehr als 113 Nationalitäten zusammenleben. Sie ist seit langem für ihre Austausch- und Experimentierfreudigkeit bekannt. Die Grundschulen im Wallis haben bereits vor 30 Jahren Pionierarbeit geleistet, indem sie Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eingegliedert haben.
Ein Orchester mit rund 20 Schülerinnen und Schülern
Seit September 2019 wird in einer Harmos-Klasse an der Schule in Martigny-Bourg mit Klassenmusizieren gearbeitet. Auf Vorschlag der Musikschullehrerin Adeline Melo, einer Klarinettistin, die bereits verschiedene Bläserklassen in Frankreich und Genf unterrichtet hat, erklärte sich die Musikschule zur Mitfinanzierung dieses Projekts bereit. An einem Treffen mit dem Schuldirektor, der Schulinspektorin und dem Verantwortlichen für den Musikunterricht an der Grundschule wurden die Ziele vorgestellt. Das Ganze stand auch im Zusammenhang mit dem Lehrplan der Romandie (www.per-mer.ch).
Seit vier Jahren nehmen jedes Jahr etwa zwanzig Schülerinnen und Schüler im Alter von sieben bis acht Jahren am Klassenmusizieren teil. Jede Woche finden während der Unterrichtszeit zwei Musikstunden statt: eine Gruppenstunde mit einer Musikschullehrerin und eine mit drei Musikschullehrern (für Blech-, Holzbläser und Schlagzeuger), separat auf drei Schulräume verteilt. Die Klassenlehrerin nimmt jeweils an den Schülerlektionen teil. Nach einigen Wochen des Vorstellens und Ausprobierens wählt jedes Kind aus Querflöte, Klarinette, Saxophon, Trompete, Posaune und Glockenspiel seine drei Lieblingsinstrumente.
Kung-Fu als Inspiration
Die Lehrer achten auf die Ausgewogenheit des Orchesters und geben den Kindern Anweisungen, wie sie mit den geliehenen Instrumenten umgehen sollen. Diese bestehen aus Kunststoff, sind gut an den Körperbau der Kinder angepasst und erzeugen stimmige Töne. Die jungen Instrumentalisten sind für ihr Instrument verantwortlich und nehmen es mit nach Hause, um damit zu üben. Das Spielen zu Hause bindet auch die Eltern – und sogar die Geschwister der Schüler – in den Lernprozess ein und lässt ein Publikum, das in diesem Bereich zuweilen Laie ist, die Musik «live» erleben. Nicht selten sind die Familien begeistert beim Abschlusskonzert dabei.
Schülerinnen und Schüler arbeiten mithilfe von Abzählreimen an Gesang, Atmung, Musiktheorie, Dirigiergestik, Rhythmus, Improvisation und Ensemblespiel. Mit Kung-Fu-Übungen lernen sie, ihren Körper besser zu kontrollieren und eine für das Instrumentalspiel geeignete Körperhaltung einzunehmen. Der Unterricht in Teilklassen ermöglicht, stärker auf die Instrumentaltechnik einzugehen und instrumentenfamilien-spezifisch zu arbeiten, insbesondere am Ansatz und an den Grifftechniken. Zudem vermitteln diese Kurse zahlreiche übergreifende Kompetenzen: Zuhören, Respekt, Hilfsbereitschaft, Kreativität, Verantwortung und vernetztes Denken.
Von der Bläserklasse in den Musikverein
Um interessierten Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, eine Instrumentalausbildung fortzusetzen und so in den ausserschulischen Bereich zu wechseln, bietet die Musikschule ein «Juniororchester» an, das einmal pro Woche gemeinsam probt. Musizierende, denen das gemeinsame Musizieren Freude macht und die sich weiterbilden möchten, besuchen Einzel-Instrumentalunterricht an der Musikschule und schliessen sich hoffentlich bald einem Musikverein in der Region an.
Mit dieser Art von Projekten wird der Einzelne nicht mehr nur zum Konsumenten, sondern zu einem echten kulturellen Akteur, je nach seinen persönlichen Erfahrungen und seinem Gruppen-Zugehörigkeitsgefühl. Wie Jean Caune (2006) schreibt, «muss die Kunst in Bezug auf den Beitrag seiner selbst neu definiert werden».